Zum Freiheitsbegriff und digitalen Infrastrukturen
Freiheit als Abwehr von ungerechtfertigter Machtausübung und Schutz vor Machtmissbrauch ist Voraussetzung für individuelle Selbstentfaltung und kollektive Selbstbestimmung. Grundrechte und Demokratie sollen diese Freiheit gewährleisten. Sie sollen die Ausübung von Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Gewissensfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und Wahlfreiheit ermöglichen und vor Diskriminierung schützen. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die Achtung des Privat- und Familienlebens und der Schutz personenbezogener Daten sind Bedingungen von Freiheit. Wie individuelle und kollektive Freiheit gelebt werden kann, ist abhängig von den gesellschaftlichen, technischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen, unter denen sie ausgeübt werden soll. In der modernen Welt sind für die Freiheitsausübung die gesellschaftlichen Infrastrukturen von entscheidender Bedeutung.
Infrastrukturen sind netzartige sozio-technische Systeme die verlässlich einen einheitlichen Satz von Leistungen anbieten, die von Interessierten als Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, als Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten und als Schutz gegenüber Lebensrisiken genutzt werden können – wie für Kommunikation, Energieversorgung, Güteraustausch, Mobilität oder Unterhaltung. Infrastrukturen sind daher Grundlagen für die Ausübung von Freiheit. Sie können aber auch durch die Abhängigkeit von ihren Leistungen, durch die Machsteigerung ihrer Anbieter und die Rigidität ihres Angebots Freiheitsausübung einschränken oder gefährden.
Digitale Infrastrukturen sind Bedingungen für das Leben in der digitalen Welt. Ohne sie wären digitale Kommunikation, Informationssuche, -verbreitung und -verarbeitung, sozialer Austausch, Handel, Mobilität sowie Hardware- und Softwarenutzung nicht möglich. Vor allem die Infrastrukturnetze und -plattformen von Google, Apple, Meta, Amazon und Microsoft bieten Leistungen, die derzeit Grundlagen für digitale Freiheitsausübung sind. Generative große Sprachmodelle wie ChatGPT entwickeln sich gerade zu einer weiteren digitalen Infrastruktur. Aber auch die Anbieter „alter“ Infrastrukturen wie Automobilhersteller, Energieversorger, Telekommunikationsanbieter oder Bahnbetreiber bauen digitale Infrastrukturen auf, ohne die ihre Leistungen nicht mehr genutzt werden können. Selbst der Staat errichtet neue Infrastrukturen wie Bürgerkonten und elektronische Zugänge zur Verwaltung. Alle diese digitalen Infrastrukturen verändern Machtgefüge und Freiheitsspielräume.
Die großen digitalen Infrastrukturen sind global und durchdringen überall auf der Welt in intensiver Weise das digitale Leben. Ihre Marktanteile sind monopolartig und ihre Anbieter haben den mit Abstand höchsten Marktwert aller Unternehmen weltweit. Für diese ungeheure ökonomische Macht gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen sind ihre Angebote für das digitale Leben hilfreich und verführerisch und zum anderen sind sie „umsonst“. Die Abhängigkeit von ihnen ist hoch und wird immer höher. Diese ökonomischen Erfolge erzielen sie vor allem durch die Verarbeitung der Daten ihrer Nutzenden. Mit deren Hilfe erstellen sie Personenprofile, beuten Subjektivität der Betroffenen aus, verkaufen ihre Aufmerksamkeit, steuern ihre Informationen und beeinflussen ihr Denken. Mit ihrer Informationsmacht versuchen sie, ihr Verhalten zu beeinflussen oder gar steuern – bisher noch insbesondere für Konsumwahl und Kundenbindung, potentiell aber auch für andere Verhaltensformen wie z.B. Wahlentscheidungen. Politisches Micro-Targeting könnte auf der Grundlage der Personenprofile leicht zur Manipulation demokratischer Wahlen verwendet werden. Zahlreiche weitere Techniken der Verhaltensmanipulation wie z.B. Dark Patterns stehen zur Verfügung. Die gleichen Infrastrukturen, die Freiheit und Demokratie unterstützen können, entwickeln sich zu ihren Gefährdern.
Die Anbieter globaler digitaler Infrastrukturen ignorieren vielfach die demokratischen Entscheidungen in Europa oder Deutschland. Sie legen ihrem Handeln eigene Regeln zugrunde, die den europäischen oder nationalen Regelungen widersprechen. Sie wollen ihre eigene Rechtsordnung – verkleidet als Vertragsbedingungen – weltweit durchsetzen.
Die Europäische Union hat neue Regelungen geschaffen, um Gefahren durch die globalen digitalen Infrastrukturen einzuschränken und deren Macht zu begrenzen. Vor allem die Digitale Dienste-Verordnung, die Digitale Markt-Verordnung und die Datenschutz-Grundverordnung haben Regelungen geschaffen, um die Freiheit des Individuums zu schützen, die Voraussetzungen eines funktionierenden Marktes zu erhalten und demokratisch festgelegte Regeln des Zusammenlebens durchzusetzen. Ob diese Regelungen genügen werden, um die verfolgten Ziele zu erreichen, muss sich erst noch erweisen. Sie sind jedenfalls sinnvolle erste Schritte zur Freiheitssicherung und Machtbegrenzung.
Im Rahmen der diesjährigen Konferenz der Plattform Privatheit wollen wir uns interdisziplinär mit den Gestaltungsherausforderungen und -möglichkeiten auseinandersetzten, um Freiheit und Selbstbestimmung in digitalen Infrastrukturen zu stärken und unerwünschte Entwicklungen zu vermeiden. Diskutiert werden sollen technische, ökonomische, soziale, politische, rechtliche, kulturelle und pädagogische Ansätze, um den Schutz der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung in der digitalen Welt weiterzuentwickeln. Dabei werden normative, institutionelle und instrumentelle Konzepte eines freiheitsfördernden Datenumgangs im Kontext digitaler Infrastrukturen diskutiert. Es sollen auch konstruktive Bausteine für eine zukunftsgerechte Gewährleistung individueller und kollektiver Selbstbestimmung und Grundrechte erörtert werden.
Hier finden Sie das Programmheft als PDF.
09:00
Registrierung und Begrüßungskaffee
10:00
Tagungseröffnung
Moderation: Hendrik Kafsack
Videogrußwort: Mario Brandenburg (Parlamentarischer Staatssekretär, Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF))
Einführung in das Tagungsthema: Alexander Roßnagel, Michael Friedewald, Barbara Ferrarese
10:30
Keynote: Pay or Okay
Max Schrems (NOYB – Europäisches Zentrum für digitale Rechte)
Moderation: Hendrik Kafsack
11:15
Podiumsdissussion: Digitale Freiheit: Welche? Wessen? Und mit welchen Mitteln?
Moderation: Hendrik Kafsack
Mario Göbel (VREEDA GmbH)
Carsten Ochs (Universität Kassel)
Andreas Bischof (TU Chemnitz)
Delphine Reinhardt (Universität Göttingen)
12:30
Mittagspause
13:45
Parallele Sessions
Session 1 (Saal): Soziotechnische Praktiken in infrastrukturellen Kontexten
Session Chair: Murat Karaboga
1.1 Diversitätsgerechter Privatheitsschutz in digitalen Umgebungen (Clara Strathmann, Heiner Koch, Martin Henning, Luisa Schmied, Nicole Krämer, Karoline Reinhardt, Jessica Heesen und Christian Geminn)
1.2 „Ich habe ein ungutes Gefühl dabei, sämtliche Gewohnheiten jemandem anzuvertrauen, von dem ich nichts weiß.“ - Eine soziologische Perspektive auf die Personifizierung von Organisationen (Maximilian Lukat und Volkan Sayman)
1.3 Privacy by Design: Schutz der Privatheit im Metaverse durch Designpraktiken am Beispiel ausgewählter Gefahren für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte (Tom Hubert, Otmar Lell, Felix Büning, Michael Kern, Sara Elisa Kettner, Markus Meyer, Runjie Xie, Jeanine Kirchner-Krath, Benedikt Morschheuser, Louisa Specht-Riemenschneider, Christian Thorun und Andreas Wiebe)
Session 2 (Studio): Gestaltungsansätze für die (technische) Umsetzung informationeller Selbstbestimmung
Session Chair: Ina Schiering
2.1 Combining Prebunking and Debunking through Civic Tech to Enable Citizen Engagement against Disinformation (Dorothea Kolossa, Anna Süß, Tobias Gostomzyk, Melce Z. Husunbeyi, Caroline Lindekamp, Victor Meckenstock, Robert Nickel, Tatjana Scheffler, Veronika Solopova und Benjamin Werner)
2.2 Erkenntnisse zur Verbesserung von Datenschutzinitiativen: Transparenz, Intervenierbarkeit und User Experience im Fokus (Lennart Kiss, Rachelle Sellung, Lars Pfeiffer, Björn Hanneke und Lorenz Baum)
2.3 PREVENT - Trainingsansatz zur Vermittlung von Maßnahmen zur Prävention digitaler Desinformationskampagnen (Kai Schewina, Stefan Stieglitz, Jonas Rieskamp und Milad Mirbabaie)
15:15
Kaffeepause
15:45
Keynote: Freiheit by Design in digitalen Infrastrukturen (Arbeitstitel)
Marit Hansen (Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz (ULD))
Moderation: Hendrik Kafsack
16:30
Poster Pitches
Johannes Lohmöller, Jan Pennekamp, Klaus Wehrle (RWTH Aachen)
Alexander Rogalla, Björn Konopka, Manuel Wiesche; Simon Hensellek (TU Dortmund)
Aniruddha Deshmukh (Universität Leipzig)
Tom Lorenz, Michael Pleger, Tanja Böhm; Ina Schiering (Ostfalia Hochschule Wolfenbüttel)
16:45
Zusammenfassung des ersten Tages
Moderation: Hendrik Kafsack
17:00
Get-together mit Fingerfood
20:00
Ende Tag 1
08:30
Registrierung und Begrüßungskaffee
09:00
Einführung in Tag 2
09:15
Keynote: Digitale Infrastrukturen und Geopolitik: Positionen aus Mexiko, Brasilien, Indien und Südafrika im Vergleich mit der EU (Arbeitstitel)
Ingrid Schneider (Universität Hamburg)
Moderation: Hendrik Kafsack
10:00
Kaffeepause
10:30
Parallele Sessions
Session 3 (Saal): Sicherheit & Freiheit? Infrastrukturelle Dimensionen und Regulierungsperspektiven
Session Chair: Christian Geminn
3.1 Einwilligung und Compliance im europäischen Datenrecht (Maxi Nebel und Luisa Schmied)
3.2 freemove Guide: Entscheidungshilfe für verantwortungsvolle Mobilitätsdatenprojekte (Alexandra Kapp, Daniel Franzen, Maximilian von Grafenstein, Helena Mihaljevic, Saskia Nuñez von Voigt, Valentin Rupp, Markus Sperl, Claudia Müller-Birn und Florian Tschorsch)
3.3 Offener Webindex: Chancen und Risiken für Grundrechte und Grundfreiheiten (Leopold Beer, Paul C. Johannes, Michael Söllner und Stefan Voigt)
Session 4 (Studio): Subjektzentrierte Aspekte von digitaler Freiheit und Selbstbestimmung
Session Chair: Stephan Schindler
4.1 Privacy-Preserving Machine Learning über robuste Statistiken -- MLens Resultate (Esfandiar Mohammadi)
4.2 Mit menschzentrierter Algorithmen-Kompetenz und -Transparenz zur informationellen Selbstbestimmung: Eine Forschungs-Programmatik aus medienpsychologischer Sicht (German Neubaum)
4.3 Das Privacy Fabric-Modell. Vorschlag für einen Umgang mit Privacy in interdisziplinären Forschungsprojekten(Johanna Möller, Sebastian Rehms und Lukas Schmitz)
12:00
Mittagspause
13:15
Podiumsdissussion: Freiheit auf digitalen Plattforminfrastrukturen: Das Spannungsverhältnis zwischen Privatheit und individualisiertem Nutzererlebnis
Jessica Heesen (Universität Tübingen)
Daniel Veit (Universität Augsburg)
Antonia Meythaler (Weizenbaum Institut, Berlin)
Susanne
Zühlke (PwC Legal, Berlin)
Moderation: TBA
14:30
Kaffeepause
14:45
Bericht aus den Konferenzsessions
N.N.
15:00
Abschlussdiskussion
Marit Hansen (ULD)
Ingrid Schneider (Uni Hamburg)
Thomas Roth (Boehringer Ingelheim)
Moderation: Hendrik Kafsack
15:45
Zusammenschau und Verabschiedung
Moderation: Hendrik Kafsack
16:00
Ende der Tagung