Jahreskonferenz 2024: Freiheit in digitalen Infrastrukturen

9. Jahrestagung der Plattform Privatheit

Zum Freiheitsbegriff und digitalen Infrastrukturen

9.Jahrestagung Roll-Up
9.Jahrestagung Roll-Up

Freiheit als Abwehr von ungerechtfertigter Machtausübung und Schutz vor Machtmissbrauch ist Voraussetzung für individuelle Selbstentfaltung und kollektive Selbstbestimmung. Grundrechte und Demokratie sollen diese Freiheit gewährleisten. Sie sollen die Ausübung von Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Gewissensfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und Wahlfreiheit ermöglichen und vor Diskriminierung schützen. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die Achtung des Privat- und Familienlebens und der Schutz personenbezogener Daten sind Bedingungen von Freiheit. Wie individuelle und kollektive Freiheit gelebt werden kann, ist abhängig von den gesellschaftlichen, technischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen, unter denen sie ausgeübt werden soll. In der modernen Welt sind für die Freiheitsausübung die gesellschaftlichen Infrastrukturen von entscheidender Bedeutung.

Infrastrukturen sind netzartige sozio-technische Systeme die verlässlich einen einheitlichen Satz von Leistungen anbieten, die von Interessierten als Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, als Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten und als Schutz gegenüber Lebensrisiken genutzt werden können – wie für Kommunikation, Energieversorgung, Güteraustausch, Mobilität oder Unterhaltung. Infrastrukturen sind daher Grundlagen für die Ausübung von Freiheit. Sie können aber auch durch die Abhängigkeit von ihren Leistungen, durch die Machsteigerung ihrer Anbieter und die Rigidität ihres Angebots Freiheitsausübung einschränken oder gefährden.

Digitale Infrastrukturen sind Bedingungen für das Leben in der digitalen Welt. Ohne sie wären digitale Kommunikation, Informationssuche, -verbreitung und -verarbeitung, sozialer Austausch, Handel, Mobilität sowie Hardware- und Softwarenutzung nicht möglich. Vor allem die Infrastrukturnetze und -plattformen von Google, Apple, Meta, Amazon und Microsoft bieten Leistungen, die derzeit Grundlagen für digitale Freiheitsausübung sind. Generative große Sprachmodelle wie ChatGPT entwickeln sich gerade zu einer weiteren digitalen Infrastruktur. Aber auch die Anbieter „alter“ Infrastrukturen wie Automobilhersteller, Energieversorger, Telekommunikationsanbieter oder Bahnbetreiber bauen digitale Infrastrukturen auf, ohne die ihre Leistungen nicht mehr genutzt werden können. Selbst der Staat errichtet neue Infrastrukturen wie Bürgerkonten und elektronische Zugänge zur Verwaltung. Alle diese digitalen Infrastrukturen verändern Machtgefüge und Freiheitsspielräume.

Die großen digitalen Infrastrukturen sind global und durchdringen überall auf der Welt in intensiver Weise das digitale Leben. Ihre Marktanteile sind monopolartig und ihre Anbieter haben den mit Abstand höchsten Marktwert aller Unternehmen weltweit. Für diese ungeheure ökonomische Macht gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen sind ihre Angebote für das digitale Leben hilfreich und verführerisch und zum anderen sind sie „umsonst“. Die Abhängigkeit von ihnen ist hoch und wird immer höher. Diese ökonomischen Erfolge erzielen sie vor allem durch die Verarbeitung der Daten ihrer Nutzenden. Mit deren Hilfe erstellen sie Personenprofile, beuten Subjektivität der Betroffenen aus, verkaufen ihre Aufmerksamkeit, steuern ihre Informationen und beeinflussen ihr Denken. Mit ihrer Informationsmacht versuchen sie, ihr Verhalten zu beeinflussen oder gar steuern – bisher noch insbesondere für Konsumwahl und Kundenbindung, potentiell aber auch für andere Verhaltensformen wie z.B. Wahlentscheidungen. Politisches Micro-Targeting könnte auf der Grundlage der Personenprofile leicht zur Manipulation demokratischer Wahlen verwendet werden. Zahlreiche weitere Techniken der Verhaltensmanipulation wie z.B. Dark Patterns stehen zur Verfügung. Die gleichen Infrastrukturen, die Freiheit und Demokratie unterstützen können, entwickeln sich zu ihren Gefährdern.

Die Anbieter globaler digitaler Infrastrukturen ignorieren vielfach die demokratischen Entscheidungen in Europa oder Deutschland. Sie legen ihrem Handeln eigene Regeln zugrunde, die den europäischen oder nationalen Regelungen widersprechen. Sie wollen ihre eigene Rechtsordnung – verkleidet als Vertragsbedingungen – weltweit durchsetzen.

Die Europäische Union hat neue Regelungen geschaffen, um Gefahren durch die globalen digitalen Infrastrukturen einzuschränken und deren Macht zu begrenzen. Vor allem die Digitale Dienste-Verordnung, die Digitale Markt-Verordnung und die Datenschutz-Grundverordnung haben Regelungen geschaffen, um die Freiheit des Individuums zu schützen, die Voraussetzungen eines funktionierenden Marktes zu erhalten und demokratisch festgelegte Regeln des Zusammenlebens durchzusetzen. Ob diese Regelungen genügen werden, um die verfolgten Ziele zu erreichen, muss sich erst noch erweisen. Sie sind jedenfalls sinnvolle erste Schritte zur Freiheitssicherung und Machtbegrenzung.

Im Rahmen der diesjährigen Konferenz der Plattform Privatheit wollen wir uns interdisziplinär mit den Gestaltungsherausforderungen und -möglichkeiten auseinandersetzten, um Freiheit und Selbstbestimmung in digitalen Infrastrukturen zu stärken und unerwünschte Entwicklungen zu vermeiden. Diskutiert werden sollen technische, ökonomische, soziale, politische, rechtliche, kulturelle und pädagogische Ansätze, um den Schutz der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung in der digitalen Welt weiterzuentwickeln. Dabei werden normative, institutionelle und instrumentelle Konzepte eines freiheitsfördernden Datenumgangs im Kontext digitaler Infrastrukturen diskutiert. Es sollen auch konstruktive Bausteine für eine zukunftsgerechte Gewährleistung individueller und kollektiver Selbstbestimmung und Grundrechte erörtert werden.


Folien, Fotos und Videoaufzeichnung

Hier finden Sie die Folien und Videoaufzeichnungen der Vortragenden sowie eine Fotoauswahl (s. Bildergalerie) zur Tagung.

Bildergalerie

Copyright by Marc Conzelmann / Plattform Privatheit

Donnerstag, 17. Oktober 2024:

Eröffnung und Begrüßung
Parl. Staatssekretär Mario Brandenburg (BMBF), 

Alexander Roßnagel, Michael Friedewald, Barbara Ferrarese

Keynote #1:
Pay or Okay
Max Schrems (NOYB – Europäisches Zentrum für digitale Rechte)

Panel #1 zum Thema "Digitale Freiheit: Welche? Wessen? Und mit welchen Mitteln?"
Moderation: Hendrik Kafsack

Mario Göbel (VREEDA GmbH), Gunnar Stevens (Universität Siegen), Andreas Bischof (TU Chemnitz) und Ina Schiering (Ostfalia Hochschule)

Paper Session #1.1

Diversitätsgerechter Privatheitsschutz in digitalen Umgebungen

Heiner Koch, Clara Strathmann, Martin Henning, Luisa Schmied, Nicole Krämer, Karoline Reinhardt, Jessica Heesen und Christian Geminn

Paper Session #1.2

„Ich habe ein ungutes Gefühl dabei, sämtliche Gewohnheiten jemandem anzuvertrauen, von dem ich nichts weiß.“ - Eine soziologische Perspektive auf die Personifizierung von Organisationen

Maximilian Lukat und Volkan Sayman

Paper Session #1.3

Privacy by Design: Schutz der Privatheit im Metaverse durch Designpraktiken am Beispiel ausgewählter Gefahren für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte

Tom Hubert, Otmar Lell, Felix Büning, Michael Kern, Sara Elisa Kettner, Markus Meyer, Runjie Xie, Benedikt Morschheuser, Louisa Specht-Riemenschneider, Christian Thorun und Andreas Wiebe

Paper Session #2.1

Combining Prebunking and Debunking through Civic Tech to Enable Citizen Engagement against Disinformation

Veronika Solopova, Anna Süß, Dorothea Kolossa, Tobias Gostomzyk, Melce Z. Husunbeyi, Caroline Lindekamp, Victor Meckenstock, Robert Nickel, Tatjana Scheffler und Benjamin Werner

Paper Session #2.2

Erkenntnisse zur Verbesserung von Datenschutzinitiativen: Transparenz, Intervenierbarkeit und User Experience im Fokus

Lennart Kiss, Rachelle Sellung, Lars Pfeiffer, Björn Hanneke und Lorenz Baum

Paper Session #2.3

PREVENT - Trainingsansatz zur Vermittlung von Maßnahmen zur Prävention digitaler Desinformationskampagnen

Kai Schewina, Stefan Stieglitz, Jonas Rieskamp und Milad Mirbabaie

Keynote #2:

Freiheit by Design in digitalen Infrastrukturen

Marit Hansen (Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz (ULD))

Poster Pitches:


Toward Technically Enforceable Consent in Healthcare Research

Johannes Lohmöller, Jan Pennekamp, Klaus Wehrle (RWTH Aachen)


On the way to data sensitization – What do smart home and smart city mean for citizens?

Alexander Rogalla, Björn Konopka, Manuel Wiesche; Simon Hensellek (TU Dortmund)


Improving Medical Consent Management through a User-Focused Digital Consent Web Application

Aniruddha Deshmukh (Universität Leipzig)


Privacy Awareness Cards - A Serious Game for Privacy Awareness

Tom Lorenz, Michael Pleger, Tanja Böhm; Ina Schiering (Ostfalia Hochschule Wolfenbüttel)

Abschluss Tag 1

Moderation: Hendrik Kafsack

Freitag, 18. Oktober 2024:

Begrüßung und Einführung in Tag 2

Keynote #3:
Digitale Infrastrukturen und Geopolitik: Zum Brüssel-Effekt in Mexiko, Brasilien, Indien und Südafrika

Ingrid Schneider (Universität Hamburg)

Paper Session #3.1

Einwilligung und Compliance im europäischen Datenrecht

Luisa Schmied und Maxi Nebel

Paper Session #3.2

freemove Guide: Entscheidungshilfe für verantwortungsvolle Mobilitätsdatenprojekte

Alexandra Kapp, Daniel Franzen, Maximilian von Grafenstein, Helena Mihaljevic, Saskia Nuñez von Voigt, Valentin Rupp, Markus Sperl, Claudia Müller-Birn und Florian Tschorsch

Paper Session #3.3

Offener Webindex: Chancen und Risiken für Grundrechte und Grundfreiheiten 

Leopold Beer, Paul C. Johannes, Michael Söllner und Stefan Voigt

Paper Session #4.1

Privacy-Preserving Machine Learning über robuste Statistiken -- MLens Resultate

Esfandiar Mohammadi

Paper Session #4.2

Mit menschzentrierter Algorithmen-Kompetenz und -Transparenz zur informationellen Selbstbestimmung: Eine Forschungs-Programmatik aus medienpsychologischer Sicht

German Neubaum

Paper Session #4.3

Das Privacy Fabric-Modell. Vorschlag für einen Umgang mit Privacy in interdisziplinären Forschungsprojekten 

Johanna Möller, Sebastian Rehms und Lukas Schmitz

Panel #2 zum Thema "Freiheit auf digitalen Plattforminfrastrukturen: Das Spannungsverhältnis zwischen Privatheit und individualisiertem Nutzererlebnis"

Moderation: Hendrik Kafsack

Jessica Heesen (Universität Tübingen), Daniel Veit (Universität Augsburg), Antonia Meythaler (Weizenbaum Institut, Berlin) und Susanne Zühlke (PwC Legal, Berlin)

Abschlussdiskussion

Moderation: Hendrik Kafsack

Marit Hansen (ULD), Ingrid Schneider (Uni Hamburg) undThomas Roth (Boehringer Ingelheim)

Programm

Das Programmheft zum Download finden Sie hier.


Tagungsband

Ausgewählte Beiträge der Tagung werden in einem Sammelband veröffentlicht, der in der Reihe „Privatheit und Selbstbestimmung in der digitalen Welt“ im Nomos-Verlag, Baden-Baden erscheinen wird. Poster-Präsentatoren haben die Möglichkeit, einen Kurzbeitrag in den Posterproceedings zu veröffentlichen.


Termine

  • Frist für die Einreichung von Abstracts:  30. Juni 2024
  • Benachrichtigung über die Annahme: 15. Juli 2024
  • Konferenz: 17-18. Oktober 2024 (Wichtig: die Tagungsräumlichkeiten sind nicht barrierefrei)
  • Einreichung von Beiträgen für den Tagungsband: Februar 2025
  • Erscheinungsdatum des Tagungsbandes: ca. September 2025

Verantwortliche

Programm: Michael Friedewald, Alexander Roßnagel, Murat Karaboga, Christian Geminn

Wissenschaftskommunikation: Barbara Ferrarese

Organisation: Susanne Ruhm, Sabine Muhr


Kontakte

Für alle inhaltliche Anfragen: michael.friedewald@isi.fraunhofer.de

Für alle allgemeinen Anfragen: plattform.privatheit@isi.fraunhofer.de


Über die Konferenz

Die Plattform Privatheit (bis 2022 Forum Privatheit) veranstaltet seit fast 10 Jahren eine interdisziplinäre wissenschaftliche Jahrestagung. Sie bietet vor allem der deutschsprachigen Community Gelegenheit, ihre Forschungen zum Thema Privatheit, Datenschutz und digitales Leben zur Diskussion zu stellen.