Pressemitteilung: Wie viel Überwachung kann ein demokratischer Rechtsstaat akzeptieren?

14.03.2022

Die neue Bundesregierung spricht sich im Koalitionsvertrag dafür aus, dass „Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Freiheitsrechte ... stets gut begründet“ sein müssen. Um die bestehenden Eingriffe in ihrer Gesamtwirkung zu betrachten, hat sich die Bundesregierung daher vorgenommen, eine „Überwachungsgesamtrechnung“ zu erstellen. Das „Forum Privatheit“ unterbreitet dazu einen pragmatischen Vorschlag.

Da die rechtlichen Möglichkeiten zur staatlichen Überwachung ständig erweitert, ergänzt oder vermehrt werden, stellt sich zunehmend die Frage, wie viel Überwachung ein demokratischer Rechtsstaat akzeptieren kann. Anstatt reflexhaft immer weitere Befugnisse zu fordern, ist es geboten, zunächst die bestehenden Überwachungsregelungen zu prüfen und die Rücknahme von Maßnahmen in den Blick zu nehmen.

„Forum Privatheit“-Sprecher Alexander Roßnagel plädiert für Pragmatismus und baldigen Beginn

„Das Gebot einer Gesamtbetrachtung aller staatlichen Überwachungsmaßnahmen lässt sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung herleiten. Danach darf grundrechtlich geschütztes Verhalten der Bürgerinnen und Bürgern nicht total erfasst werden und der Gesetzgeber muss bei Einführung neuer Überwachungsmaßnahmen die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen im Blick behalten. Ein solcher Gesamtüberblick ist, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen und umfassenden Sicherheitsgesetze der letzten Jahre, eine gewaltige Aufgabe. Umso wichtiger ist es, mit einem pragmatischen Ansatz für eine Überwachungsgesamtrechnung bald zu beginnen und sie schrittweise zu verbessern und zu verfeinern“, so Prof. Dr. Alexander Roßnagel, Sprecher des Forschungsverbunds „Forum Privatheit“ und hessischer Beauftragter für Informationsfreiheit und Datenschutz.

Wichtige Grundlage für parlamentarische und gesellschaftliche Debatte

Nach Auffassung von Dr. h.c. Marit Hansen, Landesbeauftragte für Datenschutz Schleswig-Holstein, stehen zwei Anliegen im Mittelpunkt: „Zum einen geht es um Transparenz: Die Überwachungsgesamtrechnung soll dem Gesetzgeber und allen Interessierten als Übersicht über die bestehenden Überwachungsgesetze und die damit verbundenen Grundrechtsbeschränkungen dienen. Zum anderen ermöglicht der dokumentierte Status quo eine gesellschaftliche Debatte über das akzeptable Maß der Überwachung und über notwendige Korrekturen in Umfang und Ausgestaltung. Die Erkenntnisse sollen auch in künftigen Gesetzgebungsprozessen einfließen, beispielsweise in Form einer Gesetzes-Folgenabschätzung mit Betrachtung der Reversibilität der Maßnahmen.“

Um diese Einführung nicht mit zu hohen Anforderungen zu belasten und erst noch weitere Forschungen zu deren Erfüllung abwarten zu müssen, empfiehlt das „Forum Privatheit“, zunächst den Blick auf den Bund als Gesetzgeber zu richten und einen pragmatischen, in der Praxis schnell einsatzfähigen Ansatz für eine Überwachungsgesamtrechnung zu verfolgen.

Bundesgesetze zuerst in den Blick nehmen

Im ersten Schritt sollte eine Übersicht der Bundesgesetze erstellt werden, die Überwachungsmaßnahmen durch staatliche Stellen erlauben. Eine Beschreibung der wesentlichen Erlaubnistatbestände für die Überwachungsmaßnahmen sollte ergänzt werden um Aussagen zur inhaltlichen Einordnung dieser Maßnahmen, u. a. zu ihrer Zielsetzung, zu ihrem Gegenstand, zu ihrem Innovationsgehalt, zum Anwendungsbereich, zum Anlass und zur zeitlichen Dauer sowie zur ihrer Vernetzung. Diese Übersicht sollte aber auch eine Systematisierung von Maßnahmen enthalten, die das Gewicht eines Überwachungseingriffs abmildern können. Dazu gehören beispielsweise Befristungen von Regelungen, Festlegungen von Zweckbindungen, Zugriffsbeschränkungen und Löschfristen, der Richtervorbehalt, Klarstellungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und zu Berufsgeheimnissen, Verwertungsverbote, verstärkte Transparenz- und Informationspflichten gegenüber betroffenen Personen oder Vorschriften zu einer wissenschaftlichen Evaluation mit klaren Kriterien.

Ein solcher Katalog der Überwachungsmaßnahmen kann mit der Zeit weiterentwickelt und auch für die Gesetzgebung in den Bundesländern übernommen werden. Die Überwachungsgesamtrechnung sollte für die gesetzgebenden Organe erfolgen und für die politische Öffentlichkeit offen sein. Durchführen sollte sie eine unabhängige, qualifizierte und ausreichend ausgestattete Stelle.

Die Überwachungsgesamtrechnung aller Bundes- und später auch aller Landesgesetze sollte durch eine Evaluation einzelner oder zusammenhängender Überwachungsgesetze ergänzt werden, wie es der Koalitionsvertrag auch vorsieht: Demnach soll „bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Entwicklungen“ erfolgen. Diese Evaluation sollte über die kontinuierliche Überwachungsgesamtrechnung hinausgehen und auch die Wirkungen wichtiger Überwachungsgesetze untersuchen.

Notwendige Abwägung von Sicherheit und Freiheit transparenter gestalten

„Der pragmatische und ausbaufähige Vorschlag des „Forum Privatheit“ hat den Vorteil, dass er allen Interessierten transparent macht, wie weit die Überwachungsgesetzgebung bereits fortgeschritten ist und Freiheitsrechte einschränkt. Auf dieser Grundlage kann dann leichter danach gefragt werden, ob mit einer neuen Überwachungsmaßnahme ein tatsächlicher Sicherheitsvorteil einhergeht und ob dieser die erwartete Freiheitseinschränkung vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Überwachungsmaßnahmen und Freiheitseinschränkungen rechtfertigt. Der Rückgriff auf die Überwachungsgesamtrechnung wird diese Diskussion anreichern und strukturieren. Sie kann eine abschließende Abwägung zwar nicht ersetzen, diese aber erleichtern und nachvollziehbarer machen“, fasst Dr. Michael Friedewald, Innovationsforscher am Fraunhofer ISI und Koordinator des „Forum Privatheit“, zusammen.

Im Forum Privatheit setzen sich Expert*innen aus wissenschaftlichen Institutionen interdisziplinär, kritisch und unabhängig mit Fragestellungen zum Schutz der Privatheit auseinander. Das Projekt wird vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung koordiniert. Weiterer Partner ist das Wissenschaftliche Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung an der Universität Kassel. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Forum Privatheit, um den öffentlichen Diskurs zu den Themen Privatheit und Datenschutz anzuregen.

Sprecher „Forum Privatheit“:
Prof. Dr. Alexander Roßnagel
Fachgebiet Öffentliches Recht
Universität Kassel
a.roßnagel@uni-kassel.de
Pressefoto Alexander Roßnagel

Mitglied „Forum Privatheit“:
Marit Hansen
Landesbeauftragte für Datenschutz Schleswig-Holstein
marit.hansen@datenschutzzentrum.de
https://www.datenschutzzentrum.de/presse/pressefotos-hansen/

Projektkoordination „Forum Privatheit“:
Dr. Michael Friedewald
Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
Competence Center Neue Technologien
michael.friedewald@isi-fraunhofer.de

Presse und Kommunikation „Forum Privatheit“:
Barbara Ferrarese, M.A.
Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
Competence Center Neue Technologien
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barbara.ferrarese@isi.fraunhofer.de

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