08. Feb 2022, Barbara Ferrarese
Interview zum Safer Internet Day am 8. Februar 2022 mit Prof. Dr. Alexander Roßnagel Forum Privatheit-Sprecher Alexander Roßnagel spricht im Interview darüber, warum internetbasierte Dienste wie Instagram, Youtube oder Tiktok für Kinder und Jugendliche durch die Pandemie noch wichtiger geworden sind, warum verhaltensbasierte Werbung für Kinder verboten werden sollte – und weshalb Kinder ein “Recht auf Vergessen” brauchen.
Am 8. Februar 2022 ist “Safer Internet Day”. Dieser Aktionstag wurde 1999 von der Europäischen Kommission ins Leben gerufen, um die Medienkompetenz von Kindern, Eltern und Lehrer:innen zu fördern und sie für Gefahren im Netz sensibilisieren. Doch die Befähigung der Nutzenden ist das Eine – das Andere ist ein guter gesetzlicher Rahmen, um die Gefahren des Internets so gering wie möglich zu halten. Dazu hat Prof. Dr. Alexander Roßnagel mit seinem Team geforscht und Vorschläge entwickelt, wie dieser Rahmen so gestaltet werden kann, dass beispielsweise technische Plattformen keine Daten von Kindern für Werbezwecke verarbeiten dürfen oder Daten von Bildungs-Apps gelöscht werden, wenn Kinder die Schule verlassen. Roßnagel ist Sprecher des interdisziplinären Forschungsverbunds Forum Privatheit, Rechtswissenschaftler an der Universität Kassel und Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit des Landes Hessen.
Herr Prof. Roßnagel, warum üben das Internet und internetbasierte Dienste wie Instagram, Youtube oder Tiktok für Kinder und Jugendliche einen so besonderen Reiz aus? Hat sich in zwei Jahren Pandemie etwas verändert?
Das Internet und internetbasierte Dienste bieten Kindern und Jugendlichen viele Möglichkeiten, sich frei zu entfalten und verschiedene Konzeptionen ihrer Persönlichkeit auszuprobieren. So können sie sich gegenüber ihrer Peergroup, aber auch gegenüber anderen, ihnen gänzlich unbekannten Personen in unterschiedlicher Weise inszenieren, zum Beispiel über die Videoportale Tiktok oder YouTube. Sie können sich mit diesen Personen scheinbar frei und ohne Kontrollen austauschen, etwa über die Nachrichtendienste WhatsApp, Snap Chat oder Instagram. Sie können miteinander oder mit Computersystemen spielen und sie können sich, beispielsweise über Google, unbeschränkt über Themen informieren, über die sie mit anderen Kindern und Jugendlichen oder mit den Eltern nicht reden wollen. Der Bedarf an solchen Formen der Internetnutzung hat in Pandemiezeiten stark zugenommen, weil reale Austauschmöglichkeiten stark eingeschränkt wurden.
Warum sind Kinder und Jugendliche besonders schutzbedürftig, wenn es um die Nutzung des Internets geht?
Sie wissen nicht, welche Verarbeitung ihrer Daten sie durch die Internetnutzung sie anstoßen. Sie haben erst recht kein Verständnis für die Geschäftsmodelle, die den Angeboten, die sie nutzen, zu Grunde liegen. Entsprechend fehlt ihnen auch oft jedes Bewusstsein für Risiken, die sie durch die Preisgabe ihrer Daten für ihr zukünftiges Leben eingehen. Im Gegensatz dazu erkennen sie sofort die kurzfristigen Vorzüge, die ihnen die Internetnutzung anbietet und unterliegen leicht den starken Verlockungen. Hinzu kommt, dass sie weder ihre Grundrechte kennen noch die Möglichkeit, diese wirksam auszuüben. Sie wissen auch nicht, dass ihnen Rechte auf Löschung, auf Berichtigung, auf Übertragung ihrer Daten oder ein Recht auf Widerspruch gegen ihre Verarbeitung zustehen. Auch wenn sie es nicht merken, werden sie im Internet getrackt, werden ihre Interessen und Vorlieben in Profilen gespeichert, wird ihre Weltsicht geformt und wird ihr Verhalten (z.B. durch personalisierte Werbung oder Microtargeting) gesteuert. Spielsachen mit integrierten Kameras und Mikrofonen, Ranzen mit GPS-Trackern oder smarte persönliche Sprach-Assistenten, mit denen sich Kinder und Jugendliche täglich unterhalten, greifen besonders tief in ihre Privatsphäre und damit in ihre Persönlichkeitsrechte ein.
Dennoch brauchen Kinder und Jugendliche auch Freiräume, um mit digitalen Angeboten ihre eigenen Erfahrungen machen zu können und dadurch einen verantwortungsvollen Umgang mit ihnen zu lernen. Den notwendigen Ausgleich zwischen Schutz und Fürsorge einerseits sowie Freiraum für Entwicklung und Entfaltung andererseits zu finden, ist – bezogen auf die dafür notwendige Datenverarbeitung – übrigens auch eine Aufgabe des Datenschutzes.
Wie wird dieser Schutzbedürftigkeit bisher Rechnung getragen? Wie sieht es in der Theorie – und wie in der Praxis aus?
Explizite Rechte des Kindes enthält die EU-Grundrechtecharta in Artikel 24 Abs. 1 Satz 1. Danach haben Kinder „Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind“. Außerdem gelten für Kinder auch alle anderen Grundrechte, wie das Recht auf Privatleben nach Artikel 7 GRCh und auf Datenschutz nach Artikel 8 GRCh. Im Grundgesetz ist explizit kein Datenschutzrecht von Kindern und Jugendlichen verankert. Aber auch für sie und ihre Erziehungsberechtigten gilt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Artikel 2 Abs. 1 und Artikel 1 Abs. 1 GG. Auch in Artikel 16 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist anerkannt, dass kein Kind „willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden“ darf. Diese Regelungen sind aber sehr abstrakt und in konkrete Streitigkeiten um die Datenverarbeitung im Internet schwer anwendbar.
Die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) regelt dagegen einige Fragen des Datenschutzes von Kindern und Jugendlichen konkreter. Allerding ist hinter den wenigen Regelungen kein systematisches und vollständiges Konzept erkennbar.
Was kann das Forum Privatheit dazu beitragen, dass das Internet für Kinder und Jugendliche zu einem sicheren Ort wird?
Die DSGVO erkennt in ihrem Erwägungsgrund 38 zwar die allgemeine Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen an. Doch ist diese Erkenntnis nicht systematisch im Regelungsteil der DSGVO berücksichtigt worden. Daher gibt es gerade bei den Regulierungen für Kinder und Jugendliche starken Verbesserungsbedarf. Um die bisherigen Regelungen zu ergänzen, haben wir neun konkrete Vorschläge entwickelt, um das Internet für Kinder und Jugendliche zu einem sicheren Ort zu machen – Beispiele: Bei einer Änderung des Verarbeitungszwecks sollte für die Prüfung der Vereinbarkeit mit dem ursprünglichen Zweck besonders berücksichtigt werden, ob es sich dabei um die Daten eines Kindes handelt. Für Zwecke der Werbung sollten keine Daten von Kindern verarbeitet werden dürfen, ebenso wenig für die Erstellung von Profilen. Eine Einwilligung von Jugendlichen in die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten (z. B. Gesundheitsdaten) und in automatisierte Entscheidungen sollte ausgeschlossen sein. Kinder und Jugendliche sollten als Erwachsene ein Recht auf Widerspruch der weiteren Verarbeitung ihrer Kinderdaten haben.
Welche der Datenschutzrechte halten Sie für besonders wichtig? Welche sollten in Pandemiezeiten vielleicht besondere Beachtung finden?
Ich will nur ein weiteres Beispiel für eine notwendige ergänzende Regelung nennen: Um den Kindern und Jugendliche eine offene Zukunft zu ermöglichen, sollte ihnen ein qualifiziertes „Recht auf Vergessen“ eingeräumt werden – so z.B. für alle im Rahmen einer Bildungs-App gewonnenen Daten, sobald das Kind die Schule verlässt, kombiniert mit einem Weitergabeverbot während der Nutzungsdauer.
Wurde Ihre Forderung “Keine Datenverarbeitung für Zwecke der Werbung und der Erstellung von Profilen” bereits erfüllt, etwa durch das europäische Digitale Dienste-Gesetz? Und warum ist diese Forderung überhaupt wichtig, Werbung kann doch nicht wirklich gefährlich sein?
Nein, diese Forderung wurde noch nicht erfüllt. Ursprünglich sollten diese Gesetze die Macht großer Plattformen wie Facebook und YouTube durch demokratische Rechtsetzung einhegen. Wieviel aufgrund eines starken Lobbyismus der großen Tech-Konzerne davon übrig bleibt, muss man noch sehen. Was Kinder betrifft, sprach sich das EU-Parlament vor einem Jahr zwar dafür aus, dass für Online-Werbung keine Daten von Minderjährigen genutzt werden dürfen. Allerdings muss das EU-Parlament seine Vorstellungen noch im sogenannten Trilog mit der EU-Kommission und dem Rat als Vertreter der Mitgliedstaaten durchsetzen, die diese Forderung nicht unterstützen. In der Vergangenheit traten vor allem die Mitgliedstaaten bei der Regulierung von Online-Werbung immer wieder auf die Bremse.
Wichtig ist die Forderung, weil eine verhaltensbasierte Werbung – also eine Werbung, die auf ein Kind exakt zugeschnitten ist, weil zuvor jede Menge Daten über das Kind gesammelt wurden – geeignet ist, die Wünsche des Kindes zu manipulieren. Leider nutzen viele Diensteanbieter diese Verhaltenssteuerung gegenüber Kindern für ihre kommerziellen Zwecke aus. Das aber ist das Gegenteil von Selbstbestimmung und freier Entfaltung der Persönlichkeit, die im Alter des Heranwachsens doch besonders wichtig sind.
Viele Diensteanbieter stammen aus Staaten außerhalb des Geltungsbereichs der DSGVO. Was ist die Datenübertragung in solche Staaten einzuschätzen? Welche Folgen kann das für Kinder haben?
Oft werden die Daten von Kindern und Jugendlichen in Staaten übertragen, die kein Datenschutzniveau haben, wie wir es in der EU kennen. Jeder Anbieter, der personenbezogene Daten in solche Staaten überträgt, ohne dass rechtliche und technische Garantien bestehen, dass dort ein adäquater Datenschutz gewährleistet wird, beraubt die Kinder und Jugendlichen ihres Grundrechtsschutzes. Dies ist durch die DSGVO verboten. Die Daten können dort in einer Weise verarbeitet werden, wie es in der EU unzulässig wäre. Eine praktische Möglichkeit sich dagegen zu wehren, haben die Kinder und Jugendlichen oder ihre Erziehungsberechtigten nicht. Solche Datensammlungen können im Erwachsenenalter nachteilig sein – insbesondere, wenn sie später in den Heimatstaat der betroffenen Person (zurück-)transferiert werden.
Was also ist zu tun, um möglichst rasch etwas zu verbessern? Je länger die Pandemie dauert, desto mehr ist zu erwarten, dass die Nutzung von internetbasierten Diensten auch bei Kindern und Jugendlichen weiterhin hoch ist, vielleicht sogar noch zunimmt. Können wir über die DSGVO noch etwas ändern oder müssen wir jetzt bis zur nächsten Evaluation warten?
Nein, damit sollten wir nicht warten. Auch wenn die EU-Kommission die vielen Kompromisse, die der DSGVO zu Grunde liegen, nicht gefährden und daher die DSGVO nicht anfassen will, könnte sie ja über eine Regelung außerhalb der DSGVO nachdenken. Über die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern besteht eigentlich kein politischer Dissens – schon gar nicht in Pandemiezeiten. Und hier könnten wir einmal mehr zeigen, dass sich Datenschutz und Sicherheit, wie oft unterstellt wird, überhaupt nicht ausschließen. Ganz im Gegenteil: Mehr Datenschutz im Internet bedeutet für Kinder und Jugendliche tatsächlich mehr Sicherheit.
Die letzte Regierungskoalition hatte in ihrem Vertrag beschlossen, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Ist dies auch so passiert und hat dies auch zu mehr Datenschutz für Kinder geführt? Steht dazu etwas im derzeitigen Koalitionsvertrag?
Nein, ein Vorschlag des Justizministeriums ist von der alten Regierung nicht umgesetzt worden. Die neue Regierung hat eine solche Zielsetzung wiederaufgenommen und will eigene Rechte der Kinder im Grundgesetz verankern. Zugleich will sie sich in einem Gesetzesentwurf an den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention orientieren. Hierzu sollte sie sich auch im Anschluss an Artikel 16 der Kinderrechtskonvention mit dem Schutz vor Datenverarbeitung befassen. Dabei muss sie aber den Anwendungsvorrang der DSGVO beachten. Eine Änderung des Grundgesetzes wäre aber nicht notwendig, um im Datenschutzrecht der EU für mehr Schutz und Sicherheit für Kinder und Jugendliche im Internet zu sorgen.
Das Interview führte Barbara Ferrarese.
Barbara Ferrarese, M.A. ist Politologin und Journalistin. Sie ist zuständig für die zielgruppengerechte Aufbereitung und Kommunikation der wissenschaftlichen Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsverbunds „Forum Privatheit“ für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.