04. Mai 2020, Nicholas Martin
Die Eindämmung der Covid-19-Pandemie in Taiwan ist bemerkenswert. Das Land konnte bislang eine größere Infektionswelle und umfassende Lockdowns vermeiden. Heute (3. Mai) zählt Taiwan 432 Infizierte und 6 Tote (Deutschland: 165,183 Fälle, 6812 Tote). Dabei galt Taiwan anfangs als eines der gefährdetsten Länder.
Taiwans gezielter Einsatz digitaler Tools zur Eindämmung soll hier kurz vorgestellt werden (es gibt auch eine ausführlichere Analyse in Englisch mit Links zu Quellen). Der Blick auf Taiwan lohnt, da Taiwan eine gefestigte Demokratie ist.
Taiwan hat beträchtliche, auch digitale Mittel in die Rückverfolgung von Infektionsketten (contact tracing) investiert, aber bislang von der Entwicklung einer entsprechenden App abgesehen, während Singapur schon im März seine TraceTogether-App veröffentlichte. Taiwan sah von einer App ab, da bestehende contact tracing-Ansätze ausreichend funktionierten und der zusätzliche Nutzen einer App somit als gering eingeschätzt wurde.
Contact tracing in Taiwan funktioniert stattdessen so, dass ausgebildetes Personal Covid-19 Infizierte interviewt, um ihre Aufenthaltsorte und Kontakte der letzten 14 Tage zu ermitteln und diese Informationen mit Daten aus Mobilfunkzellenabfragen und ggfs. Überwachungskameras abgleicht. Grund für den Abgleich ist, dass es Patienten oft schwerfällt, verlässliche Aussagen über länger als ein bis zwei Tage zurückliegende Zeiträume zu treffen. Ermittelte Kontakte werden von medizinischem Personal kontaktiert, mit der Bitte sich testen zu lassen bzw. in Quarantäne zu gehen. In zwei Fällen musste ausschließlich auf Funkzellenabfragen (ohne Interviews) und anschließende Massenkontaktierung per Mobilfunknachricht zurückgegriffen werden, wobei sich dies als wenig effektiv erwies. Als Rechtsgrundlage diente Taiwans Infektionskrankheiten-Kontrollgesetz. Gemäß diesem müssen mit definierten Infektionskrankheiten Infizierte ihre Aufenthaltsorte und Kontakte gegenüber medizinischem Personal offenlegen.
Taiwan verstand Digitaltechnik in erster Linie als Tool zur Unterstützung des medizinischen Personals, nicht als Ersatz für menschliche contact tracer (Interviewer). Das deckt sich auch mit singapurischem Denken. So betont der Entwickler von TraceTogether, dass die App menschliche contact tracer) nie ersetzen, sondern nur unterstützen kann.
Taiwan wies schon ab Januar Risikogebiete aus. Alle aus diesen Gebieten Einreisende wurden unter Quarantäne gestellt. Auch führte Taiwan die sonst getrennten Datenbanken der Einreisebehörde und staatlichen Krankenversicherung zusammen. Sucht ein Patient einen Arzt auf, wird dieser automatisch benachrichtigt, falls der Patient in den letzten 14 Tage aus einem Risikogebiet eingereist ist. Tests und Schutzmaßnahmen für Personal und andere Patienten können dann eingeleitet werden.
Derartige Datenzusammenführungen wären ohne richterliche Anordnung oder weitere Rechtsgrundlage in Taiwan illegal; das Infektionskrankheiten-Kontrollgesetz schafft diese jedoch. Aus Datenschutzgründen werden nur die Daten der letzten 14 Tage zusammengeführt. Die Datenbanken sollen nach der Pandemie wieder getrennt werden.
Covid-19 Verdachtsfälle und alle aus Risikogebieten Eingereiste müssen in Taiwan für 14 Tage in Quarantäne. Deren Einhaltung wird durch Menschen (Nachbarn, Ortsvorsteher) und digital überwacht. Unter Quarantäne stehende Personen müssen den örtlichen Gesundheits- und Polizeiämtern ihre Handy-Nummern übermitteln und dürfen das Gerät nicht ausschalten. Über Funkzellenortung wird ermittelt, ob das Handy sich stets am Quarantäne-Ort befindet. Darüber hinaus erfolgen mehrere Anrufe am Tag um sicherzustellen, dass man beim Handy ist. Wurde der Quarantäneort laut Ortungssignal verlassen, wird dies vor Ort geprüft. Fehlalarme haben so offenbar zwar zu gefühlter Belästigung, nicht aber zu strafrechtlichen Folgen geführt.
Die für diesen „digitalen Zaun“ erhobenen Daten sollen nur den jeweils zuständigen lokalen Behörden vorliegen und müssen nach der 14-tägigen Quarantäne sofort wieder gelöscht werden. Zugriff auf das Gesamtsystem haben laut Medienberichten nur „der Gesundheitsminister“ und drei Personen beim Systembetreiber Chungwha Telekom. Sobald die Pandemie abklingt, sollen das System und die Daten vollständig gelöscht werden. Audits sollen sicherstellen, dass keine Daten illegal zurückgehalten werden.
Taiwan verfolgte Massenbewegungen zu Ferientagen mit aggregierten Funkzellendaten um Menschenaufläufe zu verhindern, von denen erhöhte Ansteckungsgefahr ausgehen könnte. Beim Auftreten von unerwünschten Menschenansammlungen wurden Nachrichten an die in den jeweiligen Funkmasten eingeloggten Handys verschickt, mit der Bitte social distancing zu befolgen.
Taiwan konnte schnell und effektiv auf Covid-19 reagieren, weil die Jahre nach der SARS-Epidemie 2002/03 genutzt wurden, um nötige institutionelle und rechtliche Strukturen aufzubauen. So wurde das Infektionskrankheiten-Kontrollgesetz angepasst, was wiederum zu Klagen und Entscheiden vom Verfassungsgericht führte. Somit existierte bei Ausbruch der aktuellen Pandemie ein klarer Rechtsrahmen.
Die Mär vom „gehorsamen Asiaten“ oder „konfuzianischem Kollektivismus“ bietet keine Erklärung für Taiwans Eindämmungsstrategie. Das Land ist eine streitbare Demokratie mit aktiver Zivilgesellschaft und starken Protestbewegungen. Seine Strategie ist als eine mögliche, überlegte Reaktion einer reifen Demokratie, die auf Augenhöhe mit der unseren ist, zu betrachten. Welche Implikationen hat sie also für die deutsche Debatte?
Es sticht heraus, dass Taiwan Digitaltechnik umfangreich einsetzte, der Technikeinsatz aber zur Unterstützung, nicht dem Ersatz menschlicher Entscheidungen diente. Wo allein Technik zum Einsatz kam, waren die Ergebnisse anscheinend eher weniger gut.
Taiwans Strategie wirft aber auch Fragen zur Abwägung von Rechten, Pflichten und der verschiedenen Dimensionen einzelner Grundrechte, auf. Verkürzt könnte man sagen, dass Taiwan entschied, Datenschutzrechte Einzelner temporär erheblich – aber nicht vollständig – einzuschränken, um damit einen relativ effektiven Schutz des Rechts auf Leben der Mitmenschen der Infizierten und den Aufrechterhalt der Freiheitsrechte dieser Mitmenschen zu erkaufen. Infizierte mussten umfangreiche, elektronisch abgeprüfte Angaben zu ihren Aufenthaltsorten und Kontakten machen; die unter Quarantäne stehenden Personen mussten Handyortung zulassen. Dafür konnten umfassendere Lockdowns und damit einhergehende Eingriffe in die Grundrechte weiter Teile der Bevölkerung umgangen werden.
Der Eingriff in die Datenschutzrechte der Infizierten war erheblich – aber nicht absolut. Freiwilligkeit, das Recht, selbstständig über die eigenen Daten zu bestimmen, wurde massiv beschnitten; andere Datenschutzprinzipien aber gewahrt. Die erzwungenen Datenverarbeitungen scheinen zweckgebunden unter Beibehalt des Prinzips der Nichtverkettung mit zweckfremden Daten erfolgt zu sein, eingehegt durch weitere Schutzgarantien wie kurze Speicherfristen, Audits und rasche Löschung.
Wie derartige Abwägungen zu treffen sind, ist eine politische, nicht rechts-, sozial- oder technikwissenschaftliche Frage, die einer breiten Debatte bedarf und vor dem Hintergrund der jeweiligen institutionellen und infrastrukturellen Gegebenheiten entschieden werden muss. Etwa stellt sich die Frage, ob an Covid-19-Infizierten das Recht zugestanden werden soll, selbst zu bestimmen, ob sie (per App oder mit anderen Mitteln) Kontakte über die Ansteckung informieren, anders dar, wenn Tests denen vorbehalten sind, die nachweislich Kontakt zu Infizierten hatten, als wenn sie für alle verfügbar sind. Ebenso kann die Frage, ob eher die allgemeine Versammlungsfreiheit oder die informationelle Selbstbestimmung Einzelner zu schützen ist, je nach politischem Kontext anders bewertet werden.
Taiwan hat die Jahre nach SARS für diese Diskussion genutzt. Bei uns beginnt sie erst.
Nicholas Martin, PhD ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe sowie Mitglied des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten “Forum Privatheit”.