Aufgaben von Archiven im Spannungsverhältnis zu grundlegenden Datenschutzprinzipien

28. Jun 2024, Michael Friedewald

Aufgaben von Archiven im Spannungsverhältnis zu grundlegenden Datenschutzprinzipien
Aufgaben von Archiven im Spannungsverhältnis zu grundlegenden Datenschutzprinzipien

Im Rahmen der 19. Internationalen Konferenz „Computers, Privacy and Data Protection“, die Ende Mai in Brüssel stattfand, organisierte die Plattform Privatheit eine Podiumsdiskussion zum Thema „Datenschutz und Archive“. Teilnehmer:innen der Runde waren Luisa Palla vom Büro des Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDPS) in Brüssel, die Archivwissenschaftlerin Lise Jaillant von der Loughborough University, UK, der Direktor der bulgarischen Bürgerrechtsorganisation "Access to Information Programme Foundation" Alexander Kashumov sowie Michael Friedewald vom Fraunhofer ISI. Moderiert wurde die Diskussion vom Chefkurator der ungarischen Open Society Archives, Iván Székely.

Luisa Palla machte deutlich, dass der Datenschutz in öffentlichen Archiven zwar durch die Europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) bestimmt werde, sich jedoch wesentlich von anderen Anwendungsbereichen unterscheide. Dies liege daran, dass Archive die Aufgabe hätten, historisch bedeutsame Dokumente dauerhaft zu bewahren und öffentlich zugänglich zu machen. Dies stehe jedoch im Widerspruch zu einer Reihe von Datenschutzprinzipien: Zum Beispiel verlange die datenschutzrechtliche Zweckbindung, dass Daten nur zu vorher festgelegten Zwecken verarbeitet und nach deren Wegfall gelöscht würden, wohingegen Archive historisch wichtige Dokumente nicht löschen und für verschiedene andere (wenngleich nicht beliebige) Zwecke verfügbar machen sollten. Zudem seien Betroffenenrechte, wie das Recht auf Löschung und Berichtigung, in Archiven eingeschränkt: Einmal in ein Archiv transferierte Dokumente dürften nicht mehr geändert werden, um deren Authentizität zu wahren. Obwohl dies in Artikel 89 DSGVO anerkannt und geregelt werde, erfordere dies in der täglichen Archivarbeit eine ständige Abwägung zwischen Datenschutz und Transparenz sowie Zugänglichkeit der Daten. Sie betonte, dass dies umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen erfordere und dass Entscheidungen über die Zugänglichkeit personenbezogener Daten in Archiven oft individuell getroffen werden müssten. Als Leiterin des Referats, das für die Archive der Europäischen Union zuständig ist, räumte sie ein, dass das Formulieren von Regelungen komplex und auch sechs Jahre nach Inkrafttreten der DSGVO noch nicht abgeschlossen sei.

Daran anschließend präsentierte Michael Friedewald die Ergebnisse einer aktuellen Studie zur Zugänglichkeit von Archiven, die im Auftrag des Europarats durchgeführt wurde. Vor etwa 25 Jahren hatte der Europarat den umfassenden Zugang zu Archivmaterial als Bürgerrecht definiert. Laut der Studie sei dieses Recht in den Mitgliedsländern des Europarats mittlerweile gut implementiert. Das Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz und Zugänglichkeit werde jedoch durch eine Umfrage unter Archivar:innen klar bestätigt. Die Umfrage zeige auch, dass neben regional sehr unterschiedlichen Einschränkungen des Zugriffs auf bestimmte Daten vor allem der Eindruck bestehe, dass die beiden Rechtsgüter bislang zu wenig harmonisiert seien und dass Archive und deren Nutzer:innen wenig Unterstützung erhielten, um die verschiedenen Anforderungen praktisch in Einklang zu bringen.

Alexander Kashumov verdeutlichte anhand einiger prägnanter Beispiele aus der Arbeit seiner Organisation in Bulgarien, wie sich der Zielkonflikt von Zugänglichkeit und Datenschutz in der Praxis äußert. Er unterstrich, dass die gesetzliche Verankerung eines Rechts auf Zugang nicht automatisch bedeute, dass dieses Recht auch tatsächlich von allen wahrgenommen werden könne. Er berichtete von zahlreichen Fällen, in denen in Bulgarien der Zugang zu Daten der (ehemaligen) Sicherheitsbehörden und Gerichte, die für die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte essentiell seien, unter Berufung auf den Datenschutz verwehrt wurde. Erst nach langwierigen Gerichtsprozessen konnte die Freigabe solcher Dokumente erzwungen werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte dabei fest, dass für die Aufarbeitung der kommunistischen Regimes in Osteuropa das Informationsrecht der Öffentlichkeit Vorrang vor dem Schutz personenbezogener Daten hat. Kashumov warnte abschließend, dass das in der DSGVO verankerte Recht auf Vergessenwerden nicht missbraucht werden dürfe, um unangenehme Fakten aus Archiven zu entfernen und sich so der historischen Verantwortung zu entziehen.

Lise Jaillant zeigte anhand verschiedener Beispiele auf, dass digitale und hybride Archive im Vergleich zu analogen Archiven zusätzliche Fragen aufwerfen. Das Archiv der Universität Texas erwarb beispielsweise bereits 2014 Teile der Manuskripte und Korrespondenz des britischen Schriftstellers Ian McEwan, einschließlich digitaler Dokumente und Tausender E-Mails. Während die Papierdokumente mittlerweile genutzt werden können, bleibt die E-Mail-Korrespondenz bis heute unerschlossen und für die Nutzung unzugänglich. Der Grund hierfür sei, dass die E-Mails zahlreiche Daten über noch lebende Personen enthalten, die sich theoretisch bereits mit einer einfachen Schlagwortsuche identifizieren lassen. Als Lösung habe sich das Archiv hier vorbehalten, auf Antrag Forschern lokalen Zugang zu gewähren, und auch nicht zur vollständigen Korrespondenz, sondern nur zu wenigen, von Archivar:innen ausgewählten Dokumenten. Jaillant verwies darauf, dass eine ähnliche Praxis auch beim Nachlass der Publizistin Susan Sontag im Archiv der Universität von Kalifornien in Los Angeles oder bei den Papieren der britischen Dichterin Wendy Cope in der British Library angewandt werde. Hier werde das Datenschutzproblem durch die nicht minder problematische Rolle der Archivar:innen als "Torhüter:innen" ersetzt, weil unklar bleibe, wem und warum Zugang gewährt werde und nach welchen Kriterien Dokumente für den Zugang ausgewählt würden. Jaillant argumentierte, dass künstliche Intelligenz hier potenziell hilfreich sein könne, um solche datenschutzrechtlich sensiblen Dokumente zu identifizieren, betonte jedoch, dass letztlich immer eine Person die endgültige Entscheidung treffen sollte.

Aufzeichnung des Diskussionspanels: https://www.youtube.com/watch?v=J27TpDoEOGQ

Weiterführende Literatur

Friedewald, Michael, Iván Székely, und Murat Karaboga. 2023. „How Accessible Are European Public Archives? An Assessment of the Compliance with the Council of Europe Recommendation No. R(2000)13 on a European Policy on Access to Archives“. Journal of Contemporary Archival Studies 10 (21): 25. https://doi.org/10.24406/publica-3257.

Jaillant, Lise. 2022. „Design Thinking, UX and Born-digital Archives: Solving the Problem of Dark Archives Closed to Users“. In Archives, Access and Artificial Intelligence Working with Born-Digital and Digitized Archival Collections, herausgegeben von Lise Jaillant, 2nd ed., 83–107. Bielefeld: Bielefeld University Press. https://doi.org/10.1515/9783839455845-004.

Jaillant, Lise. 2022. „How Can We Make Born-Digital and Digitised Archives More Accessible? Identifying Obstacles and Solutions“. Archival Science 22 (3): 417–36. https://doi.org/10.1007/s10502-022-09390-7.


Über den Autor

Dr. Michael Friedewald ist Leiter des Geschäftsfelds „Informations- und Kommunikationstechnik“ am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe. Er koordiniert die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte „Plattform Privatheit und selbstbestimmtes Leben in der digitalen Welt”.

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